Atem
Einatmend weiß ich, dass ich einatme,
Thich Nhat Hanh
ausatmend weiß ich, dass ich ausatme.
Ich atme ein, ich atme aus; ich atme ein, ich atme aus. Ich blühe wie die Blume, bin frisch wie der Tau - groß und stark wie die Berge wie die Erde so fest. Ich bin frei. Ich atme ein, ich atme aus; ich atme ein, ich atme aus. Ich bin Wasser, was spiegelt, was wirklich ist, was wahr. Und ganz tief in meinem Innern da ist weiter, weiter Raum. Ich bin frei, ich bin frei, ich bin frei. Thich Nhat Hanh Bitte nenne mich bei meinem wahren Namen Betrachte es ganz tief: Jede Sekunde komme ich an, sei es als Knospe in einem Frühlingszweig oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln, der im neuen Nest erst singen lernt. Ich komme an als Raupe im Herzen der Blume oder als Juwel, verborgen im Stein. Ich komme stets gerade erst an, um zu lachen und zu weinen, mich zu fürchten und zu hoffen. Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod von allem, was lebt. Ich bin die Eintagsfliege, die an der Wasseroberfläche des Flusses schlüpft. Und ich bin auch der Vogel, der herabstürzt, um sie zu schnappen. Ich bin der Frosch, der vergnüglich im klaren Wasser eines Teiches schwimmt. Und ich bin die Ringelnatter, die in der Stille den Frosch verspeist. Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen, mit Beinchen so dünn wie Bambusstöcke. Und ich bin der Waffenhändler, der todbringende Waffen nach Uganda verkauft. Ich bin das zwölfjährige Mädchen, Flüchtling in einem kleinen Boot, das von Piraten vergewaltigt wurde und nur noch den Tod im Ozean sucht. Und ich bin auch der Pirat, mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben. Ich bin ein Mitglied des Politbüros mit reichlich Macht in meinen Händen. Und ich bin der Mann, der seine Blutschuld an sein Volk zu zahlen hat und langsam in einem Arbeitslager stirbt. Meine Freude ist wie der Frühling. So warm, daß sie die Blumen auf der ganzen Erde erblühen läßt. Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom. So mächtig, daß er alle vier Meere ausfüllt. Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen! Damit ich all mein Weinen und Lachen zugleich hören kann. Damit ich sehe, daß meine Freude und mein Schmerz eins sind. Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen! Damit ich erwache! Damit das Tor meines Herzens von nun an offen steht, das Tor des Mitgefühls." (1993) Thich Nath Hanh (1926 – 2022)